Ausbildung oder Studium? Viele Wege führen nach Rom!

 

Die Frage nach den richtigen Schritten in der persönlichen beruflichen Entwicklung bewegt unzählige Menschen verschiedenster Altersgruppen. Schulabgänger fragen in Internetforen immer wieder: „Was ist besser? Ausbildung oder Studium?“ Karriereportale bemühen sich um einfache Antworten. Pro- und Contralisten zu beiden Bildungsformen basieren auf der persönlichen Motivation, zum Beispiel: „Willst Du schneller Geld verdienen – dann wäre die Ausbildung richtig.“ Sie bewerten das Studium als eher theoretisch und raten Suchenden mit Praxisaffinität unbedingt zur Ausbildung. Wenn Fragende eher über analytische Fähigkeiten verfügen, individuell organsiert arbeiten können und dabei über genügend Selbstdisziplin verfügen, dann wäre wohl das Studium die bessere Wahl. Damit schließt sich die Schublade – aber diese einfachen Antworten greifen viel zu kurz. Nehmen wir uns die Zeit und schauen einmal genauer hin!

 

Früher war es noch leichter …

Über viele Jahrzehnte wurde – und das nicht zu Unrecht – vor allem ein Studium mit materieller Sicherheit, geradliniger beruflicher Entwicklung und hoher gesellschaftlicher Anerkennung gleichgesetzt. Unsere Großeltern kannten die mühsamen Aufbaujahre und erlebten den wirtschaftlichen Aufschwung durch immer bessere Bildungsmöglichkeiten. Für unsere Eltern verhieß eine gute Bildung schlicht eine geradlinige Lebensplanung. Es war also eine einfache Rechnung: Je höher der Bildungsabschluss, desto glücklicher werden unsere Kinder leben.

Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Heute gibt es fast 20.000 Studiengänge, aber nur 327 anerkannte Ausbildungsberufe und 380 höhere Berufsabschlüsse. Ausbildungen haben für unsere Elterngeneration eher den Stellenwert einer notwendigen Alternative, wenn es für das Gymnasium nicht gereicht hat. Mit der heutigen Wirklichkeit hat das nichts mehr zu tun.

 

Heute ist die Welt komplexer …

Wir leben in einer Zeit rasanter technischer und ökonomischer Entwicklungen in einer globalisierten Welt. Der Wettbewerb in der Wirtschaft funktioniert unter hohem Innovations- und Kostendruck. Anforderungen an berufliche Kompetenzen beschleunigen sich und werden dabei komplexer, auch durch die voranschreitende Digitalisierung.

Beispiele:

  • Ein Mitarbeiter in der Produktion eines mittelständischen Unternehmens Muster GmbH braucht Ersatzteile für eine Maschine. Die Materialwirtschaft des Unternehmens ist digitalisiert und funktioniert über ein SAP-Programm. Kennt der Produktionsmitarbeiter dieses Bereitstellungssystem nicht, wird er viel zu lange brauchen, um seine Maschine wieder funktionstüchtig zu machen.
  • Oder nehmen wir die Altenpflegerin. Noch vor einigen Jahren hat sie alles zu ihren Bewohnern auf Karteikarten notiert. Nun gibt sie alle Informationen in Datenbanken ein, die in Echtzeit auch ihren Kollegen zur Verfügung stehen, damit ein Schichtwechsel reibungslos erfolgen kann.
  • Ein Lehrer ohne ausreichende Medienkompetenz zu Apps, Podcasts und anderen Formaten wird seinen Schülern keinen zufriedenstellenden Unterricht bieten können.
  • Verwaltungsangestellte erfassen Akten digital und verbannen damit Papierberge in die Vergangenheit
  • Kaufleute vertreiben ihre Waren in Online-Shops und müssen das Kaufverhalten ihrer Kunden am PC verstehen können.

 

Was zählt, ist die Praxis!

Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Die Notwendigkeit einer immer wieder erweiterten beruflichen Bildung gerade im Zeitalter der Digitalisierung betrifft alle: von der Fachkraft bis zur Führungskraft. Das alte Mantra von der Theorielastigkeit des Studiums und der rein praxisorientierten Ausbildung hat seine Gültigkeit verloren. Sowohl das Studium als auch eine Ausbildung vermitteln zunächst Basiswissen. Beide Ausbildungsformen benötigen berufliche Praxis, um die Kenntnisse in berufliche Kompetenzen umzuformen. Studierende lernen das in Praktika, als Werkstudenten oder in einem dualen Studium in Unternehmen; Auszubildende als Teil ihrer Ausbildung in Unternehmen. Beide Bildungstypen sind ein möglicher Ausgangspunkt für die berufliche Entwicklung, nicht mehr und nicht weniger. Sie beschreiben keinen Lebensentwurf mehr.

Deshalb greifen die so oft bemühten Pro- und Contra-Argumente bei der Frage „Ausbildung oder Studium“ auch zu kurz. Aus traditioneller Sicht ist ein Studium mit einer später angestrebten Führungsposition verknüpft. Mein Einwand: Die Fähigkeit zur Führung erwerbt ihr durch den Ausbau sozialer Fähigkeiten und durch berufliche Expertise. Dazu gehören Erfahrungen im beruflichen Kontext und die gezielte Vorbereitung auf die Führung von Mitarbeitern.

  • Habt ihr euch für einen Ausbildungsberuf im kaufmännischen Bereich entschieden, dann könnt ihr nach eurem erfolgreichen Abschluss die Eignung zur Tätigkeit als Ausbilder (AEVO) erwerben und diese mit der höheren beruflichen Bildungsebene eines Fachwirts verknüpfen. Diesen Weg wählen übrigens Akademiker im Job gleichermaßen.
  • Ihr habt einen handwerklichen Beruf gewählt? Dann steht euch die Fortbildung zum Meister offen. Darin wird die Verfeinerung beruflichen Wissens mit dem Aufbau von Führungskompetenzen verknüpft.

Der Weg zur Führungskraft ist also auf beiden Wegen erreichbar und im Übrigen auch gleichwertig. Die Meisterbriefe enthalten den Passus, dass der Abschluss im Deutschen und Europäischen Qualifikationsrahmen der Niveaustufe 6, also dem Bachelor, entspricht.

 

Verschiedene Aus- und Fortbildungsbausteine werden zur Normalität.  

Die genannten Beispiele zeigen schon mehrere Chancen innerhalb ein- und desselben Berufsbildes. Typisch sind heute aber auch Erwerbsbiographien, die mehrere Ausbildungen, Fortbildungen und (Studien-)Abschlüsse beinhalten, die durchaus ganz verschiedene Ausrichtungen haben können.

Vor gar nicht allzu langer Zeit sprachen Personalentscheider noch von „gebrochenen Lebensläufen“, weil die traditionelle berufliche Entwicklung nur die Verfeinerung von Know-how im Rahmen einer beruflichen Ausrichtung als erfolgreich wertete und als zielorientiert beschrieb. Diese Ansicht ist heute reif für die Mottenkiste. Unsere Welt dreht sich so schnell, dass wir neue Berufe entwickeln, mit deren Kompetenzprofilen wir heute versuchen, Lösungen von wirtschaftlichen Problemstellungen zu finden, von denen wir heute noch gar nicht wissen, wie sie in nächster Zukunft aussehen. Das Zauberwort heißt flexible Anpassung. Nach Beendigung unserer Bildungsphase in Ausbildung oder Studium begegnen wir in der Berufswirklichkeit stetig neuen Herausforderungen und jeder von uns entscheidet täglich neu, welche wir davon annehmen und wie wir damit umgehen.

Je älter wir werden, desto besser nehmen wir uns selbst wahr – auch im beruflichen Kontext: Was können wir besonders gut? Wo liegen unsere Neigungen? Wir wollen uns einbringen können und Spaß an unserer Tätigkeit haben, die den Großteil unseres Tages einnimmt. Begegnungen mit neuen beruflichen Aufgaben inspirieren uns zu neuen beruflichen Entscheidungen. Viele Erwerbstätige haben inzwischen mehrere Abschlüsse und weisen Erfahrungen in unterschiedlichen Berufszweigen auf. Sie reagieren auf Bedarfe: ihre eigenen und die der Wirtschaft. Dieser Strauß an Wissen und Können ist eingebunden in einen wachsenden Reichtum sozialer und gesellschaftlicher Kompetenz.

Berufliche Wechsel werden nicht mehr als Scheitern wahrgenommen. Sie gelten als Ausdruck persönlicher Entwicklung. Solche Mitarbeiter begreifen den Wandel beruflicher Herausforderungen als Chance, können sich entsprechend anpassen und werden dafür sehr geschätzt. Ob sie ursprünglich einen akademischen Abschluss vorwiesen oder eine Ausbildung abgeschlossen haben, ist dabei zweitrangig. In der Wirtschaftssprache wird das mit dem Begriff „Diversity“ umschrieben.

 

Akademiker verdienen mehr? So einfach ist es nicht!

Ein nächstes sehr populäres Argument auf den Pro- und Contralisten zur Auswahl von Ausbildung oder Studium bzw. Beruf ist finanzieller Natur. Es heißt, Akademiker verdienen mehr. Das ist nur bedingt richtig. Eine empirische Untersuchung des Instituts für Wirtschaft in Köln zur Erwerbstätigensitutation hat 2016 bewiesen, dass das Einkommensniveau von Hochschul- und Fortbildungsabsolventen im Niveau 6 annähernd gleich ist.

Wenn der Verdienst für euch ein wichtiges Auswahlkriterium darstellt, dann informiert euch über:

  • Die Branche, in die ihr einmünden wollt. Die höchsten Gehälter werden im Consulting und in der Industrie in technischen Berufen gezahlt.
  • Regionale Unterschiede – die Gehälter variieren enorm. In Ballungszentren von Forschung und Entwicklung ist der Verdienst wesentlich höher als in Flächenländern mit nur wenigen Industrieansiedlungen.
  • Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wohnt ihr in einem Flächenland, solltet ihr euch überlegen, ob ihr eure Ausbildung oder euer Studium dort beginnt, wo die Nachfrage für eure ausgewählte Fachrichtung am höchsten ist. Prüft in Stellensuchmaschinen wie der Jobbörse der Arbeitsagentur, Stepstone usw. den Bedarf. Ihr könnt ganz einfach eine Region filtern, die Ebene Fach- oder Führungskraft auswählen und seht dann, wie viele Arbeitsplätze angeboten werden.

Auch die Unternehmensgröße spielt eine Rolle. In einem klein- und mittelständischen Unternehmen verdient ein Schlosser weniger als in einer großen Werft. Das betrifft aber ebenso den Abteilungsleiter. Eines möchte ich euch jedoch zu bedenken geben: Je größer das Unternehmen, desto mehr Erwerbstätige möchten sich dort beruflich weiterentwickeln. In einem klein- oder mittelständischen Unternehmen habt ihr weniger Wettbewerb. Ein sehr persönliches Mentoring forciert euren Kompetenzaufbau und ihr könnt schneller euer individuelles Ziel erreichen. Damit eröffnen sich für euch wiederum bessere Verdienstmöglichkeiten.

Ein Mann mit Bart und Brille hebt freudig die Arme, während Dollar-Noten und -Münzen auf ihn herabregnen.
Verdient man nach dem Studium mehr als mit einer Ausbildung? Nicht unbedingt: Die Verdienstchancen sind von vielen anderen Faktoren abhängig.
Ist eine Ausbildung oder ein Studium besser?
Die Frage gehört ins Museum.

Viel wichtiger ist:

  • Habt ihr eine konkrete erste Idee, wo eure berufliche Reise hinführen soll? Kennt ihr eure Talente, Neigungen und Begabungen?
  • Recherchiert gründlich: Welche Ausbildungen und Studiengänge gibt es zu eurem beruflichen Ziel? Was beinhalten sie? Geht zu Probevorlesungen.
  • Nutzt Betriebsbesichtigungen und sprecht mit Personalverantwortlichen in Unternehmen. Probiert euch in Praktika aus.
  • Berufliche Orientierung ist mehr als ein Beratungsgespräch, aber ein Gespräch regt euch zur Reflektion über eure Potentiale und Wünsche an. In den Arbeitsagenturen, Industrie- und Handelskammern, aber auch in den Handwerkskammern sowie in den Karrierezentren der Universitäten und Fachhochschulen findet ihr Ansprechpartner, die euch helfen können, euren Weg zu finden.
  • Checkt Portale zu Berufsbildern und Arbeitsmarktchancen.

Eure berufliche Bildung ist eine wichtige Investition in euren persönlichen Lebensentwurf. Es gibt mehrere Möglichkeiten:

  1. Ihr könnt zuerst eine Ausbildung absolvieren und dann studieren, wenn ihr es bevorzugt, ein konkretes Berufsbild von der Pike auf kennenzulernen, um dann später eure Reise weiter zu planen.
  2. Wenn eure Neigung darin liegt, Methoden zur Umsetzung beruflicher Aufgaben zu erlernen und diese dann auf eine bestimmte berufliche Thematik anzuwenden, dann beginnt mit einem Studium.
  3. Zeitgleich treffen Ausbildung und Studium im dualen Studium zusammen.

Studiert nicht oder beginnt eine Ausbildung ohne eine eigene Idee dahinter. Wenn ihr nach der Schule noch Zeit braucht, um diese Idee zu entwickeln, dann absolviert ein freiwilliges soziales, ökologisches oder kulturelles Jahr. Dabei werdet ihr nicht nur einen ersten Einblick in die Arbeitswelt erhalten, sondern auch eure sozialen Fähigkeiten schulen.

Einen Königsweg gibt es nicht. Nicht einmal eine „richtige“ Reihenfolge. Es gibt euch. Euren Ausgangspunkt. Eure Neigungen. Eure Talente. Euren Weg in den Arbeitsmarkt. Mit der Wahl zur Ausbildung oder zum Studium skizziert ihr ihn für die nächsten drei bis fünf Jahre. Und dann wählt ihr erneut – an eurem nächsten Entscheidungspunkt.

Viel Freude, Mut und Entdeckergeist auf dieser Reise wünscht euch

Eure Ulrike

P.S.: Wenn du dich für ein Studium entscheidest, raten wir dazu auch ein Auslandsstudium in Erwägung zu ziehen!

Ulrike Palme

"Lebenslanges Lernen" ist für Ulrike Palme mehr als ein Motto – es ist ihre Leidenschaft. Nach ihrem Studium der Geschichts- und Politikwissenschaft kam sie über diverse Stationen in der Personalentwicklung und beruflichen Weiterbildung an. Ulrike Palme arbeitete viele Jahre als Bildungsreferentin im IBB in Mecklenburg-Vorpommern und war für Arbeitsmarkt-Analysen, die Bedarfsermittlung und Kommunikation zeitgemäßer Weiter- und Fortbildungen verantwortlich.

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